Das Produkt muss auch das Herz erreichen.
Sie haben nicht zu viel versprochen: Das Büro von Stefan Becker und Benjamin Neubauer liegt tatsächlich in einem malerischen Hinterhof mitten in München – hier könnte auch die Werkstatt von Meister Eder sein und Pumuckl seinen Schabernack treiben. Tatsächlich wird hier auch viel Neues erdacht und auch umgesetzt. Von hier aus entwickeln und verwalten die beiden EVOMECS-Geschäftsführer mit ihrem Team nämlich ihre Softwarelösung, die Unternehmen im Werkzeug- und Formenbau dabei helfen soll, sämtliche Prozesse zu vereinfachen.
Stefan, du bist promovierter Physiker und in einem Werkzeug- und Formenbau-Unternehmen groß geworden. Wie kamst du zur EVOMECS-Idee?
2008 wollte mein Vater nach einem Maschinencrash den Prozess verbessern und sicherstellen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt. Als Ursache des Fehlers wurde ein Kommunikationsproblem identifiziert. Es gab allerdings nichts Handfestes, was für die Verbesserung des Prozesses hilfreich gewesen wäre. Also hat er mich gefragt, was es braucht, um in einer Einzelteilfertigung aus Fehlern lernen zu können. Diese Fragestellung hat mich fasziniert.
Und die Antwort lautet …
Man muss die Abläufe so organisieren können, dass Tätigkeiten in Einzelverantwortung ausgeführt werden können. Wenn also jemand einen Arbeitsschritt erledigt, sollte er niemanden fragen müssen. Deshalb liegt es nahe, eine digitale Abbildung der Fertigung über alle Prozessschritte hinweg vorzunehmen. Damit geht dann ein ungeheures Rationalisierungspotenzial einher. Wenn man Fertigung durchgängig digitalisiert, bedeutet das nämlich, dass in den einzelnen Arbeitsgängen viel weniger Wissen reproduziert werden muss. Ein Beispiel: Jemand liest etwas ab und tippt es in die Steuerung ein, verwendet also Informationen, die in einem anderen Arbeitsschritt bereits entstanden sind, und kaut sie noch einmal für den nächsten Arbeitsschritt nach. Das dauert länger, benötigt den Menschen und birgt daher die Gefahr von Fehlern. Bildet man jedoch die Fertigung prozessübergreifend ab, kann das alles entfallen.
Das ist es also, was EVOMECS im Kern ausmacht?
Ja, es handelt sich um ein durchgängiges Digitalisierungssystem mit Zugriff auf alles, was sinnvoll digital angebunden werden kann, wie z. B. Maschinen, Handling-, CAM- oder Lagersysteme. Euer erster Kunde war Dast. Wie ging die Entwicklung von dort an weiter? Bei Dast haben wir 2010 die Prozessleittechnik von Zwicker Systems eingeführt. Zwicker meldete jedoch 2012 Insolvenz an. Ich habe damals erkannt, dass ein digital durchgängiges System für die gesamte Branche relevant ist und man eine solche Anwendung mit neuer Technologie aufbauen muss – das war die Geburtsstunde von EVOMECS. 2013 haben wir Entwicklungen in diese Richtung angestoßen und 2016 die erste Version bei Dast zum Laufen gebracht...
… für Fräsmaschinen. War die Auslegung der Anwendung damals schon offen genug, um auch beispielsweise Erodiermaschinen oder andere Geräte mit einbinden zu können?
Bei der Konzeption eines solchen Systems besteht die Kunst darin, es technisch so aufzubauen, dass es einen maximal langen Lebenszyklus hat. Wir haben schon mit dem ersten Schritt versucht, die Erweiterbarkeit zu gewährleisten. Sehr früh war auch der gesamte Bereich des Qualitätsmanagements schon Teil von EVOMECS. 2016 war das System jedoch noch auf Fräsen ausgelegt, in der Version 2 hatten wir dann aber 2019 das Kanban-Konzept eingeführt und für die Version 3 diese Systematik noch mal deutlich verallgemeinert. So können Anwender nun auch Ressourcen planen und disponieren, also komplette Projekte abbilden – mit Einkauf, Teile- Handling, Abhängigkeitsbetrachtung und Planung. Momentan sind wir dabei, auch Montageanleitungen ins System zu integrieren.
Benjamin, es gehört sicher missionarischer Eifer dazu, einen Werkzeugmacher, der im Tagesgeschäft steckt, dazu zu bringen, in ein virtuelles Produkt wie EVOMECS zu investieren.
Es gibt natürlich Betriebe, die bei dem Gedanken an Optimierung gleich an eine neue Maschine denken. Uns geht es aber um Prozesse. Es geht um die Art und Weise, in der man etwas macht und darum, wie man seine Fachkräfte einsetzt. Das ist erst mal etwas Abstraktes, das sich nicht ohne Weiteres visuell darstellen lässt, birgt aber auch Potenzial, das tatsächlich noch völlig ungehoben ist.
Ihr verkauft eine Software mit einer Haltung dahinter. Wie vermittelt ihr die Inhalte von EVOMECS?
Bisher haben wir Interessenten-Besuche bei einem Referenzkunden gemacht, danach einen Workshop, in dem wir eine Vision aufgezeigt haben, wie die Zukunft des Unternehmens aussehen könnte. Wir haben aber festgestellt, dass Werkzeugmacher manchmal schneller auf den Punkt kommen möchten, dass sie ein Problem «jetzt» lösen möchten … Durch technologische Neuerungen wie Cloud-Anwendungen können potenzielle Kunden sich nun einfach einen Testaccount anlegen und EVOMECS selbst ausprobieren und ohne nennenswerte Investitionen als Mietlösung betreiben.
Funktioniert es nach dem Plug-and-Play-Prinzip oder brauche ich als Anwender eure Expertise?
Das System aufzusetzen, funktioniert dann wie bei klassischen Cloud-Systemen. Man registriert sich und findet erst einmal ein leeres System vor. Darin kann man sich Dummy-Daten anzeigen lassen und damit herumspielen. Wir haben dann aber auch die Möglichkeit, tatsächlich spezifisches Jobmanagement und Zellensteuerung mit einem schnellen Einstieg aus der Cloud heraus zu betreiben. Momentan brauchen uns die Firmen dazu allerdings noch. Aber wir erstellen derzeit Videos und Schulungsmaterialien, damit sich Unternehmen mit technisch ehrgeizigen Mitarbeitern so ein System komplett selbst aufziehen können. Zudem handelt es sich bei EVOMECS um ein reines Standardsystem. Es gibt darin keine einzige kundenspezifische Funktion. Alle verfügen über dieselbe Software.
Stefan, welches ist der größte konkrete Nutzen für Anwender von EVOMECS?
Hauptsächlich geht es erstmal um Rationalisierung. Gerade im Werkzeug- und Formenbau gibt es sehr viel Potenzial, Fachkräfte von sinnlosen, nicht wertschöpfenden Tätigkeiten zu befreien. Dies funktioniert jedoch nur bei durchgängiger und prozessübergreifender Zusammenführung der einzelnen Fertigungsschritte. Diese integrieren wir in verschiedenen Komponenten, beispielsweise in der Maschinenanbindung, dem Tool-Management oder dem Taskmanager. Wir möchten Unternehmen einfach die Möglichkeiten an die Hand geben, um einen Schritt in die Zukunft zu gehen. Gerade auch KMU müssen in der Lage sein, so ein System einzukaufen und ohne großen Aufwand zu betreiben. Wir möchten einfach das Herz des Anwenders erreichen … Das geht aber nur, wenn beispielsweise Weiterentwicklungen leicht und sicher zu testen sind. Eine technische Besonderheit von EVOMECS ist daher, dass sich – trotz Durchgängigkeit – jede Komponente eigenständig und unabhängig voneinander up- und downgraden lässt.
Und mit EVOMECS operiert man plattformunabhängig. Das heißt, ihr seid ständig in Kontakt mit Maschinen- oder Steuerungsherstellern.
Wir haben mit beiden einen sehr schönen Austausch. So etwas kommt durch Kundenprojekte zustande. Ein Werkzeugmacher möchte eine bestimmte Anbindung und wir treten dann zusammen an die entsprechenden Maschinen- oder Steuerungshersteller heran. Das hat bislang sehr gut funktioniert. Es gibt in den Unternehmen aber auch eine ganze Menge wirklich guter Hardware, bei der aber die Software des Herstellers nicht mehr upgedatet wird. Da können wir ein «Retrofitting» anbieten, das funktioniert gerade bei Leitsystemen in der Automation sehr gut.
Benjamin, wie viele Anwendungen von EVOMECS gibt es denn zurzeit am Markt?
Ungefähr 15, aber bisher waren wir in der Entwicklungsphase. In solch einem komplexen technischen Umfeld kann das einige Jahre dauern. Unser System ist nun aber in einem Zustand, bei dem wir die Nachfrage sehr schnell und einfach bedienen können. Es ist skalierbar und daher starten wir nun in die Wachstumsphase.
EVOMECS ist also genau zum richtigen Zeitpunkt fertig geworden, nun wo der Strukturwandel im Werkzeug- und Formenbau ansteht …
2015 ging es für uns noch um Themen wie Automatisierung und Rationalisierung – und wie man das den Mitarbeitern im Unternehmen beibringt. Heute ist die Frage im Gegenteil: Wo kriege ich Mitarbeiter her? Das sind externe Faktoren, die uns bei unserem Angebot in die Karten spielen.
Funktioniert EVOMECS auch für andere Branchen?
Absolut. In den Bereichen Maschinenanlagenbau, Lohnfertigung und Produktion haben wir momentan Projekte, die sich in der Frühphase befinden. Hier haben wir eine sehr hohe Entwicklungsgeschwindigkeit, weil wir den Kern des Systems mit so viel Bedacht gestaltet haben. Dass wir aus dem Werkzeug- und Formenbau kommen, ist natürlich auch ein Vorteil, weil wir das technisch «dickste Brett» gleich am Anfang bohren mussten:
Wenn man in der Branche über Zusammenarbeit spricht, wird die Standardisierung als wichtige Basis genannt. Auch ihr werbt mit dem Begriff «Shared Manufacturing». Was verbirgt sich dahinter?
In Zukunft werden Unternehmen die Möglichkeit haben, ihre Fertigungsaufträge so leicht zu teilen, wie das heute mit einem Dokument oder einem Termin der Fall ist. Hat man einen Auftrag, der aus unterschiedlichen Positionen besteht, aber im Moment nicht die Ressourcen, um alles selbst zu machen, wird die Arbeit per Knopfdruck einfach geteilt. Falls das Partnerunternehmen nicht selbst schon Evomecs nutzt, wird ein System in der Cloud erzeugt und alle Beteiligten können den Fertigungsauftrag ohne großen Aufwand weiterbearbeiten. Es liegen dann sämtliche Informationen zum Projekt vor und der Fortschritt der Bearbeitung ist jederzeit transparent abrufbar. Es ist zwar ein wesentlicher Teil unserer Konzeption, dass die Unternehmen dabei über die Cloud verbunden sind, das System funktioniert aber auch, wenn die Daten bei den Unternehmen vor Ort liegen. Wir werden also immer auch die «On-Premise»-Variante anbieten. Das kollaborative Arbeiten wird davon nicht beeinflusst. Man kann mit dem System einfach umziehen, alle Daten von der Cloud nehmen, sie lokal installieren und nahtlos weitermachen.
Stefan, was sind denn die nächsten Schritte?
Wenn man in die Möglichkeiten der Digitalisierung einsteigt, kommt der Hunger mit dem Essen. Unsere Kunden machen einen ersten Schritt und haben dann häufig auch Ideen, was man mit dem System noch alles verbessern könnte. Zum Beispiel ist die Fertigungsplanung tatsächlich recht ungeplant dazugekommen. Wir haben sie zunächst als bereits gelöstes Problem betrachtet, um das sich andere Softwaresysteme kümmern. Dann haben uns die ersten Anwender aber davon überzeugt, dass es durchaus Sinn ergibt, die Planung mit den Echtzeitdaten und dem gesamten in EVOMECS vorliegenden Kontext vorzunehmen. Das reduziert den Implementierungs- und Pflegeaufwand von Planungssystemen massiv.
Das gehört ja zur Fertigungsplanung dazu.
Das öffnet uns die Tür auch zur Montage, die als Arbeitsschritt ebenso digital betrachtet werden sollte. Was wir durchgängig abbilden, kategorisieren wir im Grunde in Technologien – Fräsen, Erodieren, Messen, Waschen etc. Da ist die Montage einfach eine weitere Technologie, die dort Einzug hält. Das geht natürlich über die Cloud viel einfacher als eine Maschinenanbindung umzusetzen.
Warum?
Bei der Montage ist es nicht schlimm, wenn die Internetverbindung kurz unterbrochen ist. Um hier aber die Produktion einer Maschine über die Cloud sicher fortzusetzen, gilt es durchaus einige Kriterien zu beachten …
Wenn der Mensch dabei ist, dann bedeutet das immer auch eine größere Fehlerquelle.
Das stimmt. Wenn man dem Menschen aber klare Anweisungen gibt und seine Tätigkeit mit einer Verbindlichkeit verknüpft, dann hat man mehr Möglichkeiten, auch den Montageprozess zu verbessern. Wenn es etwa Reklamationen gibt und man die Historie digital vorliegen hat, dann kann man viel einfacher Verbesserungen vornehmen. Unser Prinzip der lückenlosen Verfolgung setzt sich hier bei der Montage fort.
Benjamin, was kommt denn aus der Entwicklungsperspektive als Nächstes dazu?
Ein interessanter Hype der letzten Jahre war natürlich das Thema KI. Damit experimentieren wir gerade. In der Fertigung haben wir einen unglaublich großen Datenschatz mit hoher Qualität. Wir kennen alle Zusammenhänge und Zustände. Da bieten sich interessante Anwendungsfälle an: Wenn das System in der Werkzeugverwaltung beispielsweise einen Fräser identifiziert, der eine Beschädigung aufweist, kann automatisch geprüft werden, welche Werkstücke damit bearbeitet wurden. Auf diese Weise kann vermieden werden, dass fehlerhafte Bauteile ausgeliefert werden.
Seid ihr eigentlich stolz auf Evomecs?
Das Feld, das wir bearbeiten, ist äußerst komplex, und wir sind uns bewusst, dass wir eine sehr hohe Verantwortung unseren Kunden gegenüber tragen. Dass wir aber mit unserem Wissen und unseren Innovationen auch an anderer Stelle eine effiziente Produktion und damit Wohlstand ermöglichen, gleichzeitig auch Nachhaltigkeit unterstützen, erfüllt uns schon mit Stolz.
Ist das euer Antrieb?
Der Mittelstand hat uns geprägt. Wir möchten, dass auch die vielen KMU im Werkzeug- und Formenbau an den Möglichkeiten der Digitalisierung partizipieren.
Auch Großkonzerne haben das Ziel, Abläufe zu verbessern …
Das stimmt. Unser größter Kunde hat 10 000 Mitarbeiter. Dort arbeiten zwar nicht alle mit EVOMECS, aber die Firma hat Großunternehmensstrukturen, in denen unser System genauso gut funktioniert.
Ist Internationalisierung ein Ziel von EVOMECS?
Absolut. Die Anwendung läuft bisher in den Systemsprachen Deutsch, Englisch und Polnisch. Aber wenn ein Anwender nächste Woche Kroatisch benötigt, dann bekommt er das auch nächste Woche. Ihr seid kein komplett virtuelles Netzwerk an Programmierern, sondern habt ein festes Büro.
Ist das wichtig für eure Arbeit bzw. für euer Auftreten?
Das Büro ist Teil unserer Identität. Verteiltes Arbeiten von zu Hause aus funktioniert bei uns sehr gut, sich aber immer wieder zu treffen, um sich auszutauschen, ist ebenso wichtig. Außerdem schätzen wir den «Meister Eder»-Charakter unseres Büros! Das ist auch etwas, das uns mit dem Mittelstand verbindet.